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Zwischen 1348 und 1353 schrieb der italienische Dichter Giovanni Boccaccio das „Decamerone", ein Buch, das dann seinen Weltruhm begründet hat. Die Handlung spielt 1348, dem Jahr, in dem in Florenz die Pest herrschte. Sieben Damen und drei Herren flüchten vor ihr auf ein Landgut und erzählen sich nun zum Zeitvertreib zehn Tage lang Geschichten, sodass sich schließlich, in die Rahmenhandlung eingebettet, hundert Novellen ergeben, deren gemeinsames Thema die Liebe ist. Die Falkennovelle wird am fünften Tag erzählt.
So hört denn: Als ein vornehmer und hoch geschätzter Mann lebte einst Coppo di Borghese Domenichi in unserer Stadt und lebt vielleicht noch heute dort. Mehr noch seines Anstands und seiner Tugend als seiner vornehmen Herkunft wegen war er überall wohl geachtet und verdient ein stetes Gedenken. Noch in hohem Alter fand er häufig Vergnügen daran, sich mit Nachbarn und Freunden über vergangene Geschehnisse zu unterhalten, und verstand es besser als jeder andere, solche Begebenheiten getreulich zu berichten, wobei ihm sein ausgezeichnetes Gedächtnis und seine hinreißende Vortragsweise gar wohl zustatten kamen. Neben anderen schönen Geschichten pflegte er zu erzählen, dass einmal in Florenz ein Sohn des Messer Filippo Alberighi, namens Federigo, lebte, dessen Tapferkeit und adelige Sitten höher gerühmt wurden als die aller übrigen jungen Edelleute der Toskana. Wie es oftmals der Jugend geschieht, verliebte sich dieser Federigo in eine vornehme, edle Dame, Monna Giovanna, die zu ihrer Zeit als die schönste und anmutigste Frau von Florenz galt. Um ihre Liebe zu gewinnen fehlte Federigo auf keinem Turnier und nahm an allen Waffenspielen teil, gab glänzende Feste und freigiebige Geschenke und vergeudete in maßloser Weise sein großes Vermögen. Sie aber war ebenso tugendsam wie schön und kümmerte sich weder um die Dinge, die ihretwegen geschahen, noch um den, der sie veranlasste. Während Federigo auf solche Art gewissenlos sein Vermögen verschwendete und doch nichts dafür gewann, kam es gar bald, wie es kommen musste: Die Reichtümer schwanden dahin, und er wurde ein armer Mann. Von seinem großen Vermögen verblieb ihm nichts als ein kleines Gütchen, von dessen schmalen Erträgen er kümmerlich leben konnte, und sein Falke, der als einer der besten Falken der Welt galt. Obwohl seine Liebe heißer denn je glühte, sah Federigo bald ein, dass er nicht länger in der Stadt leben konnte, wie er es sich gewünscht hätte. Er zog sich daher nach Campi auf seinen kleinen Besitz zurück, ging dort, sooft es möglich war, auf die Vogelbeize und ertrug die Armut ohne irgendeinen Menschen um Beistand zu bitten. Als Federigo bis aufs Letzte heruntergekommen war, erkrankte eines Tages der Gatte Monna Giovannas und machte, da er seinen Tod herannahen fühlte, sein Testament. Er setzte seinen schon ziemlich herangewachsenen Sohn zum Erben seiner unermesslichen Reichtümer ein, doch sollte, falls dieser ohne rechtmäßige Nachkommen stürbe, alles an Monna Giovanna fallen, die er innig liebte. Darauf starb er und ließ Monna Giovanna als Witwe zurück. Diese ging nun, wie es bei unseren Edeldamen üblich ist, mit ihrem Sohn den Sommer über auf eine ihrer Besitzungen, die ganz in der Nähe von Federigos Gütchen lag. So kam es, dass der heranwachsende Knabe sich mit Federigo anfreundete und sich mit ihm auf Vogelbeize und Jagd vergnügte. Dabei hatte er oft Gelegenheit, Federigos Falken stoßen zu sehen, der ihm so über die Maßen gefiel, dass er nichts heißer begehrte, als ihn zu besitzen. Doch wagte er nicht Federigo um ihn zu bitten, weil er sah, wie teuer jenem sein Falke war. Bald darauf erkrankte der Jüngling zur großen Betrübnis seiner Mutter, deren Ein und Alles er war und die ihn so zärtlich liebte, wie nur eine Mutter lieben kann. Während sie die Tage mit seiner Pflege ausfüllte, versuchte sie ihn aufzuheitern und fragte ihn oft, ob es irgendetwas gäbe, was er sich wünsche. Wenn es irgendwie möglich sei, werde sie es zu beschaffen trachten. Der Jüngling, der diese Versprechungen immer wieder hörte, sagte schließlich: „Ach, Mutter, wenn Ihr es fertig brächtet, dass ich den Falken Federigos bekäme ..., ich glaube, dann würde ich gleich gesund."
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